2010 NIEOBECNE/ABWESENDE. Tanz
Musik Theater
2008 DER PROZESS –
Tanz Literatur
Theater nach einer Lektüre des gleichnamigen Romans von Franz
Kafka
Das war
Zufall, dass der "polnische" Abend der vielfach bewährten
Duisburger
Tänzerin und
Literaturwissenschaftlerin Bettina Rutsch in die
Woche der
polnischen Staatstrauer fiel. Ihr neuestes
"Tanz Musik Theater" mit
dem zweisprachigen Titel "Nieobecne/Abwesende" ging von polnischer
Lyrik aus,
nicht nur aus der Feder der
Literatur‑Nobelpreisträgerin Wisława
Szymborska.
Seit 1994
entwickelt Bettina Rutsch ihre
Produktionen, und wer ihre Entwicklung verfolgt hat
(die RP
berichtete), der
staunte über eine Aufführung, die trotz der oft
rätselhaften Texte kaum noch
hermetisch ist, deren poetische Klarheit aber nicht weiterer Worte
bedarf, um
verstanden zu werden.
Da kommen die Darstellung, die Musik und nicht
zuletzt
der Tanz ins Spiel. Überflüssig zu betonen,
dass
diese Tänzerin längst eine
eigene und unverwechselbare Synthese verschiedener Tanzstile von
Ballett bis
Butoh entwickelt hat.
Ein
Höhepunkt ist es, wenn Rutsch rezitierend und
tanzend als "Der siebte Engel" von Zbigniew Herbert
auftritt,
"schwarz und nervös", mit einem Flügel. Das muss man
erlebt haben!
Überhaupt die sprechenden
Kostüme, außerdem
die kuriosen Requisiten wie ein
Vogelkäfig und ein Umzugskarton, dem allerlei skurrile
Gegenstände entnommen
werden wie ein Stoffleguan, der auch mal mittanzen darf. Nicht zu
vergessen
die
großartigen Mitstreiter: der Duisburger Kontrabassist Guido
Bleckmann, der
hochprofessionelle
Lichtdesigner Dominyk Salenga, der Pianist und
Gitarrist
Arne Wiegand und nicht zuletzt die phänomenale,
seit 14 Jahren
in Duisburg
lebende polnische Chansonsängerin Jola(nta) Wolters.
RHEINISCHE POST Duisburg, 20. April 2010
Die
ständige Suche nach Halt
"Nieobecne, Abwesende" vereint Polnisches und Deutsches, Tanz, Musik und Theater
Gesungene
Poesie und
zeitgenössischer Tanz gingen am Samstag eine Liaison im
Stadttheater ein.
Bettina Rutsch zeigte der Öffentlichkeit ihr jüngstes
Projekt
Nieobecne/Abwesende. Inspiriert vom Gedicht
"Labyrinth" der
polnischen Nobelpreisträgerin Wisława
Szymborska arbeitete die
Duisburger
Choreographin
und Literaturwissenschaftlerin mit der polnisch-deutschen
Chansonsängerin
Jola Wolters an einem lyrischen
Tanztheaterstück, das die
Machtlosigkeit und
Orientierungslosigkeit sowie die ständige Suche nach Halt
und Heimat des
modernen Menschen beleuchtete und ganz nebenbei auch noch einen Beitrag
zum
Chopin‑Jubiläum lieferte. "Wir haben zwei Walzer von
Frédéric Chopin mit
drin" erklärte Bettina Rutsch den
zufälligen
Zusammenhang.
Auch
die gezielte Wahl der polnischen Texte und Lieder kann man als
gelungenen
Beitrag zum
Kulturhauptstadtjahr verstehen. Mit der Auswahl wollte man
den Menschen
hier die polnische Kultur näher
bringen: "Viele Menschen im
Ruhrgebiet
haben polnische Wurzeln und wissen nur wenig darüber."
Außerdem
diene das deutsch-polnische Kunstprojekt als
kreative Auseinandersetzung mit dem direkten
Nachbarn. "Die Begegnung
mit
Jolanta Wolters und der gemeinsame Wunsch, ein Projekt zusammen zu
machen,
ließ
mich auf die Texte stoßen" erinnerte sich Bettina Rutsch .
Konsequent
wurden die Lieder nur im Programmheft
übersetzt, gesungen wurden sie im Original, mit der
kräftigen, raumgreifenden,
wunderschönen Stimme von Jola Wolters. Im Wechselspiel
erfolgten die
Tanzsequenzen, mit intensiver, aber sehr abstrakter
Körpersprache im Stile des
Ausdruckstanzes. Nicht alles
erschloss sich da auf Anhieb.
Jolanta
Wolters lebt seit 14 Jahren in Duisburg.
In Polen widmete sie sich schon früh ihrer Gesangskarriere,
arbeitete mit
bekannten Künstlern zusammen und gilt heute als eine der
bekanntesten
polnischstämmigen
Chansonsängerinnen in
Nordrhein‑Westfalen. Sie singt auf
Deutsch und auf Polnisch und kann als moderne
Europäerin und
Botschafterin der
Kulturen verstanden werden.
Auch
Bettina Rutsch kann als Botschafterin der Künste betrachtet
werden. In ihrem
künstlerischen Schaffen
stellt sie harmonische Verbindungen
zwischen Literatur,
Musik und Bewegung her. Ihre Choreographien
wandeln gesprochene Worte
in
fließende Bewegungen des Körpers.
Im vergangenen Herbst fingen
die beiden Künstlerinnen mit der Recherche und der Gestaltung
des Stücks an.
Im
Dezember schließlich stand das feste Gerüst. Seitdem
wurden Details herausgearbeitet und fanden
intensive
Proben mit den Musikern Guido Bleckmann (Kontrabass, Percussion),
und Arne
Wiegand (Piano, Gitarre) sowie
mit dem Lichtdesigner Dominyk Salenga statt.
WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG Duisburg, 19. April 2010
_______________________________________
Die
Duisburger Literaturwissenschaftlerin und Tänzerin Bettina
Rutsch zeigte im
Duisburger
Landgericht eine
beeindruckende choreografische
Interpretation nach
Franz Kafkas "Der Prozess".
Die
Zuschauerbänke des großen Schwurgerichtssaals im
Duisburger Landgericht waren
voll besetzt, als Josef K.
der Prozess gemacht wurde, nur weil jemand ihn
verleumdet hatte. ‑ Mit solchen Worten könnte man den
ungewöhnlichen Abend mit
der Tänzerin und Literaturwissenschaftlerin Bettina Rutsch
beschreiben.
Die
kreative Duisburgerin überschrieb ihre Performance selber
durchaus präzise mit:
"Der Prozess ‑ Tanz,
Literatur, Theater nach einer Lektüre des
gleichnamigen Romans von Franz Kafka." Bettina Rutsch ließ
sich von
Kafkas
Romanfragment zu einer darstellenden Interpretation inspirieren, deren
Dramaturgie offen für
verschiedene Genres war. Mal per
Tonband, mal live wurden Passagen aus dem "Prozess" oder aus Kafkas
Tagebüchern
zitiert, wobei
die Tagebuchzitate mit kratzenden Schreibgeräuschen unterlegt
wurden.
Körpersprachlich
deutete Bettina Rutsch die mal schüchternen, mal energischen
Verteidigungsversuche des
Angeklagten Josef K., der sich zu entwinden
sucht,
sich dabei aber immer stärker in ein Verfahren verstrickt,
dessen Struktur auf
Verstrickung hin angelegt ist.
Feinfühlig
deutete sie durch Gestik, Mimik, Haltung sowie dynamische und bisweilen
auch
verzögernde
choreografische Elemente die aufkeimende und dann wieder
schwindende Hoffnung des "Angeklagten" an.
Die Bewegungsmuster
wirkten auch deshalb besonders eindrucksvoll, weil der Schauplatz der
künstlerischen
Darbietung kein künstlicher, sondern
ein wirklicher Schwurgerichtssaal war. Bettina Rutsch nutzte als
Bühne
zusammengestellte
Gerichtstische, stieg auf die
Stühle, wo sonst Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und
Angeklagte sitzen.
Bisweilen verließ sie die Rolle des Josef K., des
Protagonisten aus Kafkas
Romanfragment,
spielte eine verhärmte Putzfrau, die das
Mobiliar zu reinigen
sucht. Einmal
zitierte Bettina Rutsch, die
Kafka‑Vorlage ausbauend, die berühmten Verse des
verzweifelten
Gretchens aus Goethes Faust ("Meine Ruh' ist
hin / Mein Herz ist schwer /
Ich finde sie nimmer / Und nimmermehr"). Großes Lob
gebührt auch der Musik.
Thorsten Töpp und Guido Bleckmann sorgten für
atmosphärisch
überzeugende
Klänge. Und die jiddischen Lieder
und Stücke aus der Klezmer-Tradition passten
vorzüglich zu den Texten Kafkas, der sich in den letzten
Jahren
seines kurzen
Lebens mit dem Ostjudentum beschäftigt hatte.
Gelungen
war dieser ungewöhnliche und vielschichtige Kafka-Abend, der
am bestmöglichen
Ort stattfand,
nicht zuletzt deshalb, weil er sowohl die Kafka-Kenner als
auch
die unvorbereiteten Zuschauer ansprach, die
den "Prozess" vom
Hören‑Sagen
kannten.
Schön,
dass man im Duisburger Landgericht so offen für
Kulturveranstaltungen ist.
RHEINISCHE POST Duisburg, 29. Oktober 2008
Wenn Kafka zum Tanz bittet
Bettina
Rutsch inszenierte im Landgericht das Roman‑Fragment "Der Prozess"
Kafka
ist
schwere Kost. Generationen von Literaturwissenschaftlern, Lehrern,
Schülern
haben sich in unzähligen
Deutungsmöglichkeiten der gleichnishaften Literatur
des Prager Autors versucht. Eine ganz neue Möglichkeit
der
Interpretation präsentierte die Tänzerin und
Literaturwissenschaftlerin Bettina Rutsch jetzt
im Landgericht.
Ungewöhnliche Aufführungsorte kennt das Publikum seit
Jahren.
Doch diesmal diente der Ort nicht als
Marketingmittel, sondern war
Bestandteil
des Stückes. Bettina Rutsch inszenierte Franz Kafkas
Romanfragment
"Der
Prozess" im altehrwürdigen Schwurgerichtssaal als Tanztheater.
Zum Inhalt: Josef K. wird kurz vor seinem
30. Geburtstag
verhaftet. Warum, das wird
auch in dem sich über Jahre erstreckenden Prozess nicht
deutlich.
Am Ende
steht die brutale Exekution Josef Ks. Die
Inszenierung im Landgericht machte die dunkle und
bedrückende
Atmosphäre des
"Prozesses" fühlbar. Auch für die Zuschauer, die auf
den harten
Holzbänken als
Prozessbeobachter den Albtraum des K.
mitverfolgen konnten ‑ und
mussten, denn ein vorzeitiges Verlassen
des Saales wäre nur in
Begleitung eines
Justizbeamten möglich gewesen. Die Unausweichlichkeit der
Situation,
mit der
sich K. konfrontiert sah, fand ihre spiegelbildliche Entsprechung im
begrenzten Raum, der Bettina Rutsch
für ihre tänzerische Darbietung zur
Verfügung stand:
wenige zusammengeschobene Tische, an denen sonst
Staatsanwälte und Verteidiger
Platz nehmen. Abrupte Bewegungen, Drehungen, Sprünge, immer
wieder
Bodenfiguren, schnell wechselnde Tempi ‑ die Choreographie
übersetzte die
Zerrissenheit der gequälten Psyche
des K. in Bewegungen ‑ zur
eigens für das Stück komponierten Musik von Thorsten
Töpp, die das
böse Ende
erahnen ließ. Dazu passend die Melancholie der jiddischen
Lieder, die Bettina Rutsch darbot.
Zur Orientierung
dienten Rezitationen aus dem Romanfragment und aus
Tagebuchaufzeichnungen
Franz Kafkas.
Der wäre von der Inszenierung sicher begeistert
gewesen, brachte
sie doch eindrucksvoll mittels einer Collage
aus Tanz, Musik und Literatur
zutage, dass es letztlich Josef K. selbst ist, der sich immer tiefer in
sein Unglück
hineinwindet.
WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG Duisburg, 28. Oktober 2008
_______________________________________Mehr als getanzte Psychoanalyse
Wieder einmal haben
wir von einer anspruchsvollen
"Tanz
Literatur Theater"‑Produktion der Duisburger
Tänzerin und Choreografin
Bettina Rutsch zu berichten. "Orpheus ‑ ErinnerungVergessen",
ihr
"Tanz
Musik Theater nach Motiven aus Claudio Monteverdis L'Orfeo", hatte
jetzt
Premiere in der Duisserner
Lutherkirche.
Dieser wunderbare Raum, ergänzt durch Kunstwerke von Edith
Kreth‑Finkeissen (Collagen und Objekte) sowie
Angelika Stienecke (Malerei und
Objekte), spielte quasi mit durch seine Innenarchitektur und durch das
Lichtdesign (Dominyk Salenga).
Es geht, frei nach der 400 Jahre jungen, ersten großen Oper
der Musiktheatergeschichte, um das Wesen von
Musik und Tanz, um Mythos und
Seele, um Erinnerung als ‑ nach Erich Fried – "die
qualvollste Art / des
Vergessens / und vielleicht / die freundlichste Art / der Linderung /
dieser
Qual". Es geht um die
psychotherapeutische Grundthese, unsere
frühkindlichen Seelenverletzungen könnten durch
Rückschau geheilt
werden ‑ so
wie Orpheus seine Eurydike endgültig an die Unterwelt verlor,
weil er sich nach
ihr umschaute,
und dadurch erst zum ganzen Menschen wurde.
Bettina Rutsch als
Tänzerin, Simone Dors
als Schauspielerin,
Hartmut Kracht als Jazz‑Bassist und Uwe Maibaum
als improvisierender Organist
stehen hier im Vordergrund. Freilich sind die Rollen nicht so eindeutig
verteilt;
während das Grundgerüst des Abends aus dem
übersetzten und
gesprochenen "Orfeo"‑Libretto von Alessandro
Striggio d.J. besteht,
wirken die wenigen (und gut) gesungenen Passagen umso eindrucksvoller,
etwa
wenn
die Schauspielerin plötzlich eine originale Zeile der
Messagera/Botin
anstimmt, die dem Orfeo/Orpheus den
(ersten) Tod seiner Frau verkündet, oder
wenn Salvatorkantor Maibaum sich mit volltönender Bass‑Stimme
kurzzeitig in den
dämonischen Fährmann Caronte/Charon beziehungsweise
Herrn der Unterwelt
Pluto/ne
verwandelt.
Dem mit Kulturgeschichte und Psychonanalyse bespickten Abend
fehlt es dennoch nicht an sinnlicher
Ausstrahlung. Besonders intensiv wirken
jene Szenen, in denen die "Unterwelt" durch das drastische
Bild der
Schizophrenie verdeutlicht wird.
Eine Empfehlung also
für die zweite
Aufführung am Samstag,
11. November, ebenfalls um 19.30 Uhr in der
Lutherkirche an der Duisserner
Martinstraße.
Energisch
und zart: Lasker‑Schüler
Sie
war eine schillernde, aber auch tragische
Dichterpersönlichkeit. Else Lasker‑Schüler dichtete
in einer
Welt, die in zwei
großen Kriegen "entzweigegangen" war und in der es
galt, zumindest eine
Imagination von
der Sehnsucht "universaler Liebe"
hinüberzuretten. Bei
ihren Lesungen musizierte und tanzte sie nicht selten
ihre
merkwürdig
schwebende lyrische Intonation. Auf eben jenem Weg zu einem
mikrokosmischen
Gesamtkunstwerk war die Musik‑Tanz‑Lesung, die der Heinrich von
Veldeke-Kreis
und die Wasserburg Rindern
zu Ehren der Dichterin in der Hauskapelle
inszenierten.
Margarete
Federkeil Gaitzsch (Rezitation), Ulrike Höffkes
(Flöte), und Bettina Rutsch (Tanz) erwiesen sich
nicht nur als
kongeniale
Partnerinnen bei der akustischen und visuellen Umsetzung des
Laskerschen
Textkörpers. Ihre Auswahl und Interpretation der Gedichte
zeigte, dass sie sich
die Dichterin zu einer guten
Freundin gemacht haben. "Auf
Siebensternenschuhen" war das Programm überschrieben, das die
Lyrik der
Lasker deklamierte. Margarete Federkeil Gaitzsch machte die Gedichte in
einer
Stimmung präsent, die
zwischen Energie und Zartheit wechselte.
Zwischen
C. Ph. E. Bach, Vivaldi und Klezmer‑Improvisationen
lotet Ulrike Höffkes' Querflöte das gesamte
Tonspektrum jener Empfindungen aus.
Perfekt das dramaturgische Timing in den Stücken, in denen
Bettina
Rutsch Anmut
und Würde in der menschlichen Zerrissenheit, nicht zuletzt das
lyrische Staunen
über sich
selbst tänzerisch zum Ausdruck brachte.
Lang anhaltender Beifall der
zahlreichen Zuhörer beendete den Abend.
RHEINISCHE POST Kleve, 16. Dezember 2006
Auf Siebensternenschuhen zu Else Lasker‑Schüler
Der
Markus‑Lüpertz‑Ausstellungsraum im
Museum Küppersmühle
drohte aus allen Nähten zu platzen. Rund 230
Zuschauer wollten die
Veranstaltung zu Ehren der deutsch‑jüdischen Dichterin Else
Lasker‑Schüler
sehen.
Unter dem Titel "Auf Siebensternenschuhen" wurden
ausgewählte
Gedichte Lasker‑Schülers nicht nur rezitiert,
sondern auch musikalisch und
tänzerisch interpretiert.
Das Werk der "grande
dame" des
Expressionismus nicht in
Vergessenheit geraten zu lassen, das war das Ziel
der Dinslakener Lyrikerin
Margarete Federkeil Gaitzsch. Sie hatte den Abend anlässlich
des 60. Todestages
der Dichterin ins Leben gerufen, zeichnete für die Auswahl der
Gedichte
verantwortlich und war auch
diejenige, die die großen Liebes‑ und Klagegedichte
sowie die Hebräischen Balladen Else Lasker‑Schülers
rezitierte. Eine reine
Lesung sollte es nicht werden. Ganz im Stile der Expressionistin, die
auch als
Flötenspielerin und Tänzerin auftrat, wurde die
Rezitation sowohl musikalisch
als auch tänzerisch begleitet.
Die Dinslakener Flötistin Ulrike Höffkes und die
Duisburger Tänzerin Bettina Rutsch sorgten für
eindringliche
Eindrücke über die
Texte hinaus. Und so ließen sich die Zuschauer 75 Minuten
lang in den Bann der
drei
Künstlerinnen ziehen. Erst ganz zum Schluss, nachdem die
schwarz
gekleideten Damen die Bühne bereits
verlassen hatten, durfte lange und
ausgiebig applaudiert werden. Die Veranstaltung unter der
Schirmherrschaft von
Oberbürgermeister Sauerland gab einen Einblick in das Werk der
Dichterin, die
1869
in Elberfeld (Wuppertal) geboren wurde und 1945 in Jerusalem im Exil
starb. Die Themen Liebe und Tod
durchziehen ihr Werk genauso wie ihr Leben.
Dichterfreund Gottfried Benn lobte sie als die
"größte Lyrikerin,
die
Deutschland je hatte" und schrieb: "Ihre Themen
waren vielfach jüdisch, ihre
Phantasie orientalisch,
aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles
zartes Deutsch."
Die
Duisburgerin Bettina Rutsch zielte mit ihrem "Tanz
Literatur Theater" mit dem Titel
"The Maiden and Death" auf die
gleichberechtigte Verknüpfung dieser drei Künste ab.
Der
Titel
"The Maiden and Death" kehrt schon die gewohnte
Reihenfolge um. Die Duisburgerin Bettina Rutsch
zielt in ihrem "Tanz Literatur
Theater" (so der Untertitel) wieder einmal auf die gleichberechtigte
Verknüpfung
dieser drei Künste ab. Dies ist quasi die jüngste
Druckwelle von
jener künstlerischen Explosion, welche Franz
Schuberts Vertonung des Matthias‑Claudius‑Gedichts "Der Tod und das
Mädchen" und die Verarbeitung in
seinem gleichnamigen
Streichquartett Nr. 14 d‑moll auslösten.
Natürlich geht dies auf viel ältere Mythen und
Archetypen
zurück. Wie Bettina Rutsch in ihrem klugen
Programmheft schreibt, geht es in "The Maiden and Death" um den
weiblichen Körper als
Austragungsort
der in
unserer "nicht integrationsfähigen und daher
gewaltbereiten Gesellschaft"
nicht als "wesenhaft
zusammengehörige Pole" erkannten Gegensätze wie Leben
und Tod, Weiblichkeit und Männlichkeit, Lust und
Angst, Abhängigkeit und Macht.
Dass daraus kein inszeniertes Oberseminar, sondern sehr
sinnliches Theater wurde, dafür sorgten schon die
spielenden, singenden und
nicht zuletzt tanzenden Darstellerinnen Mónica Delgadillo,
Simone Dors, Sabine
Lindlar und Bettina Rutsch mit ihrer teils verletzlich pathetischen,
teils
selbstbewusst heiteren Präsenz.
Spätestens als eine Tänzerin mit
Schädelmaske
an der imaginären Ballettstange trainierte, wurden
Zusammenhänge von Totentanz
und verdrängter gesellschaftlicher Neurose in einem blitzenden
Bild fokussiert.
Den musikalischen roten Faden bildete selbstverständlich
Schuberts
Streichquartett (von der CD), dann meist
im Sinne des klassischen Balletts zu
einem zuversichtlichen Körperkult genutzt.
Unbedingt erwähnt werden muss das Ensemble Duophonie, das
sind Petra Naethbohm und Ruthilde Holzenkamp
mit ihren verblüffenden
Arrangements für die bewusst "arme"
Besetzung Blockflöten und Akkordeon.
Ein Höhepunkt war das Lied "Une jeune fillette''
(1576) von
Jean Chardevoine, in dem sich ein zwangsweise
ins Kloster verfrachtetes Mädchen
lebendig begraben fühlt. Am Ende noch einmal der
Variationensatz aus
Schuberts
Quartett, nun plebejisch bearbeitet. Wunderbar.
Die frühen Drangsalierungen des Körpers und der Seele
Bettina Rutsch zeigt ihr neues Tanzstück "The Maiden and Death"
Der
gegenüber Claudius und Schubert
umgedrehte Titel verrät,
worum es geht: "The Maiden and Death".
Thema des neuen Tanzstücks der
Choreographin und Tänzerin Bettina Rutsch nähert sich
dem Mädchen
‑ nicht
seinem realen Tod, sondern dem, was lange vorher in ihr stirbt.
Inmitten morbider Skulpturen Hildegard Brills entwerfen
Mónica Delgadillo, Simone Dors, Sabine Lindlar und
Bettina Rutsch Bilderfolgen
von suggestiver Kraft, die das transportieren, was Rutsch "das allgemein
menschliche Problem, einen (sterblichen) Körper zu haben und
das historisch
bedingte Problem, einen
weiblichen Körper zu haben" nennt. Und das ganz
besondere Problem, eine Tänzerin zu sein. Mit allem, was
damit verbunden ist:
den Drangsalierungen des Körpers wie der Seele.
Ob die Geborgenheit der Kinderträume früh verloren
geht, ob
der Mädchenkörper einem Schönheitsideal
unterworfen wird, das ohne Bulimie kaum
erreichbar ist, alles ist in drastischen, intensiven Szenen entwickelt.
Und
Märchen und ihre psychoanalytische Deutung haben
natürlich auch ihren Platz
(inklusive Zitat aus dem
Filmscript von "Die Zeit der Wölfe"). Das weite
Feld von Wünschen, Ängsten und Verdrängung.
Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen"
aus
der Konserve, live gespielte Klänge mit dem
Ensemble Duophonie (Petra
Naethbohm, Blockflöten, Ruthilde Holzenkamp, Akkordeon), ein
wie eine Axt in
den
Schädel fahrender "Metallica"‑Ausbruch: Zerrissenheit - auch die Musik war da
bestens im Film.
Begeisterter
Applaus der zahlreichen Besucher im Theater.
Das Labyrinth als Irrgarten der Seele
Akzente‑Tanz von Bettina Rutsch
Die Wege zum "Ich"
bleiben
verschlungen. Im Rahmen der "Duisburger Akzente" stellte Bettina Rutsch
ihr
Solo‑Stück "Labyrinthos" vor. Fernab jeglicher
Ballett‑Klischees
präsentierte sie ein
außergewöhnliches
Gesamtkunstwerk aus Tanz, Textrezitation und
Bühnendarstellung.
In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Hildegard Brill
erzählt
Bettina Rutsch auf ungewöhnliche Art die
Geschichte des Minotaurus. Brills
Bühnenbilder und Skulpturen sind mobil ins
Bühnengeschehen integriert und
werden durch den sensiblen Umgang mit Licht und Schatten des
Lichtdesigners
Dominyk Salenga zum Leben
erweckt.
Ein neuer Zugang zur Sage der griechischen Mythologie
erschließt sich dem Zuschauer, verschiedene Aspekte
der Figuren, werden
thematisiert: Der Mensch mit Stierkopf nicht mehr nur als
mörderisches
lustvolles Vieh,
sondern auch als verstoßenes Kind, als Opfer der Liebe seiner
Mutter zu einem Stier, Theseus nicht nur als
tapferer Krieger, sondern auch als
eitler Torero.
Kraftvoll und kreativ füllt die Solotänzerin alle
Personen
mit Leben, sie ist Stier, Mutter, König, Schwester,
Stierkämpfer, Krieger und
Kind und lässt das Publikum an ihrer Suche nach der
eigenen Identität
teilhaben. Das architektonische Labyrinth wird zum Sinnbild des
Irrgartens von
Körper, Geist und Seele, von
Leidenschaften, Schuldverstrickung und Liebe. Die
Auswahl der teils folkloristischen, teils modernen Texte und
Musikstücke
schafft Raum für eigene Assoziationen bei stringent
erzähltem Handlungsverlauf.
Durch Körper,
Stimme und die brillanten Skulpturen, die Rutsch benutzt als
wären es lebendige Teilnehmer, schafft die
Künstlerin Zugang zum Thema "Labyrinth" sowie zur
griechischen Mythologie.
Mit der Inszenierung des
archaischen Stoffes ist Bettina Rutsch eine
Glanzleistung gelungen, die vom zahlreich erschienenen Publikum
honoriert
wurde.
Gesang, Spiel
und Tanz: Ein
faszinierender Abend in
der Küppersmühle
Wie Musik die Künste lenkt
Quer
zur Stadt, am
Innenhafen, gehen Leute
spazieren. Der Weg belebt die freie Abbruchfläche des Parks;
das Weiß der
Abbruchreste verschmilzt mit der Farbe der Dämmerung. Es ist
schwül, später
wird es regnen.
Zu einem Konzert- oder Tanz- oder Theaterabend in der
Küppersmühle zieht es gut 150 Besucher; wie der
Abend
zu nennen wäre, bleibt
offen.
Zwei
Künstlerinnen und ein Künstler treten
auf: der Countertenor Thomas Bremser, die Musikerin Britta
Wodarczak
und die
Tänzerin Bettina Rutsch. Gemeinsam und je für sich
überspielen sie die Grenzen
ihrer
Künste. Ein tänzerischer Höhepunkt ist
so das isländische Lied, in dem
Bettina Rutsch ihre Stimme vom Zwang
zur Bedeutung frei werden
lässt. Und ein opernhaftes
Raumerlebnis schafft Thomas Bremser, als er beim
Vortrag einer
Händel-Arie den
Raum verlässt und damit einen Bühnenraum erst
schafft, in dem der Tanz den
Gesang frei begleiten kann.
"Zwei
in einem"
Weder
dem
Sänger noch der Tänzerin aber gehört
der Abend, der im Spiel eine provisorische Einheit findet.
Zwei
große Soli für
Akkordeon weisen den zuhörenden Betrachter darauf hin, welche
lenkende Rolle
dabei die
Musik übernimmt. Britta Wodarczak schafft mit ihrem
verwandelnden
Spiel eine Distanz, die Tänzerin und
Sänger vor
wechselseitiger Verletzung
schützt. Ein Zusammenspiel kommt dabei zustande, das seinen
Höhepunkt in der
Interpretation eines Liedes von John Dowland findet ("Flow,
my tears...").
Das Motto "Zwei in einem" enträtselt sich
so, aber es hat durchaus auch tiefere Bedeutung. Die männliche
Stimme Thomas
Bremsers mit ihrem weiblichen, Countertenor-spezifischen
Ausdrucksspektrum kann
gemeint
sein, ein Widerspruch der Erwartungen, auf den auch das
gleichsam
‚ungeschminkte’ Auftreten Bettina Rutschs
sich
bezieht. Im Duo von Tänzerin und
Akkordeonistin (‚Adios’) ist ihr Tanz
automatenhaft; im Zusammenspiel
entsteht
ein imaginärer Raum im Sinne E.T.A. Hoffmanns, in dem die
beiden Frauen sich
begegnen.
"Zwei in Einem"
– Lieder von Liebe, Tod und Liebe
"Ich
hab im
Träumen geweinet"
Liebe
und Leid –
als ob sie untrennbar zusammengehörten: so schien es am
Sonntag in der
kammermusikalischen Aufführung des Ensembles Zungenreden in
der Wasserburg in
Rindern. Die Interpreten
hatten musikalische und literarische
Stücke vorwiegend
zum Thema Liebe vom Mittelalter über Renaissance,
Barock,
Romantik und Klassik
bis zur Neuen Musik und Literatur zusammengetragen, und der
Zuhörer und
–schauer badete in einem Meer von Wohl und Weh. Und das tat
gut, denn trotz der
Eindimensionalität des
Themas sorgte eine ausgefeilte
Dramaturgie für
Abwechslung und kombinierte die drei Elemente Stimme,
Instrument und
Tanz so
gelungen, dass es bis zum Schluss spannend blieb.
Über
Texte von
Heinrich Heine – "Ich hab im Traum
geweinet" und Lieder von Georg Friedrich
Händel –
"Sweet Rose and Lily"
und "Nur die Seufzer trösten mich" von
Wolfgang
Amadeus Mozart ging es zu Else
Lasker-Schüler und deren Lied
vom steinernen Herzen
bis zu den rätselhaften Versen von Ingeborg Bachmann.
Dabei
vermochte die
herrliche Stimme des Countertenors Thomas Bremser eine ganze Welt von
Sehnsucht
in einen einzigen Namen zu legen: "Amarilli, mi
amore". Die verhaltenen
Gebärden der Tänzerin Bettina Rutsch
brachten die
fremden Worte eines
isländischen Liedes zum Klingen: "Oh,
hätten wir uns nie gesehen." Und
Britta
Wodarczaks perfektes Spiel auf dem Akkordeon, sowohl als Solistin, als
auch als
Begleitung, gab allem
den passenden Rahmen. Eindrucksvoll begann die
Veranstaltung mit einem Solo, das fast ausschließlich mit
dem
Balg gespielt zu
sein schien: ein langgezogenes Rauschen wie von Wind und Wasser
erfüllte den
sakralen
Kapellenraum. Es gab Tangomelodien, wie man es vom Akkordeon
erwartet,
aber auch neuere Kompositionen,
die die gefühlvolle
Atmosphäre etwas abkühlten,
oder sie, im Gegenteil, erst recht steigerten. Ohne die
"Phantasie" von Jürgen
Ganzer hätte das "Ach, ach, ach..." in dem "Lamento" von
Johann Christoph Bach
sicher keinen so starken Eindruck gemacht. Eindruck machte hier
allerdings auch
der scheinbar das Innen
nach außen wendende Tanz von Bettina
Rutsch. Mehrfach
fiel die gänzliche Übereinstimmung zwischen
Instrument und Stimme auf, dann
wieder war die Auflockerung durch die Körpersprache, die ein
Stück
Theater in
die Kammermusik brachte, willkommen.
Zum
Schluss wollte
das Publikum die drei professionellen Interpreten (die RP berichtete)
nicht
gehen lassen.
Es gab stehende Ovationen und zwei Zugaben.
Ein
getanztes Leben aus dem
alten Island
Die
Saga von Grettir dem Starken
Hinreißend,
faszinierend, sinnlich und intellektuell zugleich, mit sparsamen,
symbolträchtigen
Requisiten – Stab, Stein, rote
Stola – vor allem aber mit
ihrem Körper und ihrer Stimme brachte
Bettina Rutsch die
altisländische Saga
von Grettir dem Starken am 5. und 6. Juni 2001 auf die Bühne
des Theaters "Fletch Bizzel". Zur Veranstaltung hatte die
Deutsch-Isländische Gesellschaft
eingeladen.
Jakob
Levy Moreno
formulierte zur Zeit Freuds in Wien das sog. "soziogenetische
Gesetz". Es
besagt, dass ein
Individuum in Gruppen isoliert wird, wenn es sozial,
emotional, intellektuell und/oder physisch ausdifferenzierter,
stärker ist als
die übrigen Gruppenmitglieder. Dieses Gesetz affektiver
Gruppenstruktur
funktionierte offenbar
schon im Mittelalter. Denn die teils
historische, teils
sagenhafte Gestalt des Dichters Grettir war diesem
Mechanismus von
Jugend an
ausgesetzt: Eine Strafe von drei Jahren Landesverweis muss er schon im
Alter
von 14 Jahren hinnehmen. Er reist nach Norwegen und zeichnet sich dort
durch
große Heldentaten aus.
Einschneidendes
Ereignis in seinem Leben
wird die Begegnung mit einem umgehenden Toten, einem
Wiedergänger. Grettir
überwindet ihn zwar im Kampf, doch der Wiedergänger
belegt ihn mit einem Fluch:
Alle Taten sollen ihm von nun an zum Unglück ausgehen, z.B.
holt er aus
Hilfsbereitschaft für Schiffbrüchige
Feuer. Das Haus,
aus dem er es geholt hat,
brennt jedoch am nächsten Tag ab, und Grettir wird mit der
Verleumdung belohnt,
er sei der Brandstifter gewesen. Eine Prophezeiung des
Wiedergängers
traumatisiert
den Helden vollends: Grettir würde fortan weder
Alleinsein, noch
Dunkelheit ertragen können und immerfort
die Augen des Toten
sehen müssen.
Tatsächlich führt Grettir von nun an im Bergland ein
ruheloses
Geächtetenleben
und kann kaum die Furcht vor dem Alleinsein und der Dunkelheit
bezähmen. Nur in
seinen
Kämpfen mit Riesen und Berserkern ist ihm auch
weiterhin Glück
beschieden. Zuletzt verschanzt er sich auf
eine nur mit Leitern
ersteigbaren
Insel. Durch eine schwere Krankheit, die ihm seine Feinde bringen, und
die
Unachtsamkeit eines Knechtes, der die Leitern nicht genügend
bewacht, kommt
Grettir, der geschwächte
Starke, - seinen Feinden ausgesetzt
– um.
Überragende
körperliche Ausstattung und Klugheit, Unangepasstheit von
Jugend an,
Furchtlosigkeit
in waghalsigen Situationen, Einsatz auch für
Andere,
Angstmacher, Ächter, Isolation, Verrat, Tod –
Stationen eines ebenso starken
wie intelligenten Heldenlebens, das auch für uns im 21.
Jahrhundert
lebende
Menschen Identifikationsfigur sein kann?
Freilich
gibt es
auch heute Geschlechterkämpfe, strukturelle Gewalt und Mobbing
in
Institutionen, Ausgrenzung
von Einzelgängern, Unbequemen,
Überlegenen,
Querdenkern, Fremden, denn all diese Merkmale des
Ungeheuerlichen,
Unheimlichen, Befremdenden, Vereinzelten finden sich –
abgespalten, abgelehnt
und
unbewusst – in jedem von uns – mehr oder
weniger. Wohl gibt es auch heute
noch zwanghaft geschlossene
Systeme, fundamentalistische Ideologien und
Ideologen, deren einzig vorstellbare Methode der
Konfliktlösung
Machtkampf und
Krieg ist. Gewiss bleiben auch heute die Grundwidersprüche der
menschlichen
Existenz
unaufgelöst, die Tatsache z.B., dass jeder zugleich
allein und nicht allein
auf der Welt ist und dass das Leben
begrenzt ist – trotz
aller Möglichkeiten
der Grenzüberschreitung. Vielleicht aber sind wir nicht mehr
so
ausgesetzt, so
schicksalsgläubig wie in der Antike und im Mittelalter: Es
muss
nicht
kommen, wie es soll,
es kann auch
kommen, wie man/frau es will.
Jedenfalls hätten wir seit
Aufklärung, Psychoanalyse und
Existenzphilosophie die Möglichkeit, die Mechanismen der
Angstmacher,
Verflucher, der krankmachenden
Unholde zu durchschauen, wenn wir nur
den Mut
hätten, uns unseres Verstandes zu bedienen. Kant:
"Aufklärung ist der Ausgang
des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist
das
Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen
zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache
derselben nicht am
Mangel des Verstandes, sondern am Mangel des Mutes
liegt, sich seiner
zu
bedienen." Sartre: "denn man ist ja nicht nur das,
was aus einem gemacht wurde,
sondern das, was man aus dem macht, was aus einem gemacht
wurde."
Dr. Bettina
Rutsch, die Tänzerin, Lyrikerin, Dramaturgin und
Literaturwissenschaftlerin,
hat jedenfalls
auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass intelligente und starke Helden,
die
systematisch geschwächt werden,
nicht nur Männer sein
müssen, sonst hätte sie
als Frau diese Rolle nicht so überzeugend spielen
können: Ihre
beinahe wilde
Natürlichkeit wird durch bis in die Zehen- und Fingerspitzen
disziplinierte
Ausdruckstanzbewegungen ins Gleichgewicht gebracht. Bettina Rutsch hat
fast
nichts, auf das sie sich
zurückziehen könnte
– nur ihren Körper, ihre Mimik,
ihre Bewegungen, ihren Tanz und den meterlangen,
blutroten Stoff, mit
dem sie
akrobatische Ein- und Entwickelspiele vorführt. –
Metapher für die Sehnsucht
des
Helden nach Liebe oder für die vielfältig
verwickelten Liebesspiele, die
die Interpretin – nicht der Text – dem
Leben ihres
tragischen Helden
unterstellt. Am Ende entpuppt sich der Inhalt des Liebestuchs als Stein.
In welchen
Ausprägungen kommen Lust und Liebe sonst noch vor in diesem
Heldenleben? Zum
einen als Mutter-
Vaterliebe, zum anderen in der Gestalt einer zuerst
lockenden, dann lachenden Hexe, die man als
angstbesetzte,
männliche Projektion
der Überlieferung begreifen muss, weil Hexen weise Frauen
sind, die mehr
wissen, als Männern lieb ist. Schließlich kommt sie
– die Liebe – vor im Symbol
des Feuers, das in der
Lebensgeschichte Grettirs nicht Wärme,
nicht Licht,
sondern Tod bedeutet. Und um einen anderen Preis als
den der kleinen
und großen
Tode ist die Liebe ja auch wohl nicht zu haben. "... und so
lang du das nicht
hast –
dieses Stirb und Werde, bist du nur ein
trüber Gast auf der dunklen
Erde" (Goethe). Die Liebesgeschichte, die
der Rächer
des Mörders des Grettir im
Orient (!) erlebt, wurde auf der Bühne nicht mehr gezeigt.
Nicht leichthin,
nicht leichtsinnig sind die Bilder der Lebensstationen des starken
Grettir,
sondern archaisch-
ernst, puristisch-streng, von den ehernen Gestzen des
Schicksals geprägt. Ihnen entsprechen der Einsatz von
Dunkelheit und Licht und
die die Tänzerin begleitende, unterstützende,
verstärkende Musik, die
fasziniert und
an die Lava-Wüsten Lanzarotes erinnert, auch an
die
Officium-Musik vom Saxophonisten Jan Garbarek mit dem
Hilliard-Ensemble, die
Erinnerung an isländische Urlandschaften sein will als
Metapher für das
Verstummen der
Menschlichkeit.
Ein sagenhafter
Abend, der seine besondere künstlerische Qualität in
den "Leerstellen" des
Textes hatte.
Damit meine ich jene Möglichkeiten, die ein Text
und seine
Umsetzung auf der Bühne den Fragen, Projektionen,
Identifikationen seiner
Zuschauer lässt. Erst alles zusammen – die
überlieferte Saga, ihre Darstellung
auf der
Bühne und die Interpretation der
Zuschauer machte den Abend zu
einem Kunstwerk, das die Frage stellte, ob
ein Leben schon deshalb
erzählenswert
ist, weil es als Kunstwerk auf die Bühne gebracht wurde, oder
ob es
nicht
selbst – dieses erzählte Leben – ein
Kunstwerk gewesen sein muss, um
erzählenswert zu sein?